Analysiert die westliche Medizin in erster Linie die einzelnen Teile des menschlichen Körpers und erst in zweiter Linie deren Zusammenspiel, so macht es die Traditionelle Chinesische Medizin umgekehrt. Sie fußt auf den Theorien von den “Fünf-Wandlungsphasen” und der “Yin-Yang”-Polarität, nach der alle Elemente der Natur miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen. Diagnostik und Therapie bedingen sich in der chinesischen Medizin gegenseitig. Im Westen wurde das anfangs ignoriert – alle Bemühungen richteten sich darauf, die Wirksamkeit der “alternativen Therapieformen” nachzuweisen. Mittlerweile aber haben sich diese in der Praxis so weit durchgesetzt, dass auch die theoretischen Grundlagen gebührend beachtet werden
- Kern der chinesischen Medizin – wie auch der Philosophie – ist die Lebensenergie Qi , welche Körper und Seele durchströmt.
- Krankheiten gehen auf Störungen dieses Energieflusses zurück.
- Der Arzt erkundet sie anhand von acht diagnostischen Kriterien
- Mit speziellen diagnostischen Methoden sucht er nach den Ursachen für den gestörten Energiefluss.
Die Lebensenergie Qi
Qi (sprich: “tschi” – übersetzt: “kosmische Energie”, “Atem”, “Geist”, “Kraft” oder auch “Antrieb”) ist die universelle Lebenskraft, die sämtliche Vorgänge der Natur ermöglicht. Qi ist durchströmt Körper und Seele des gesunden Menschen gleichmäßig und ungehindert in zwei Kreisläufen: Die Meridiane (“Energiebahnen”) führen das durchfließende Qi; daneben gibt es auch einen Kreislauf zwischen den inneren Organen. Beide Energiekreisläufe hängen funktionell eng zusammen. Qi kommt aus drei “Quellen” in den menschlichen Körper: Es wird mit der Atemluft in die Lunge aufgenommen (“Atmungs-Qi”,Yang-Qi ), entsteht durch Verdauung der Nahrung (“Nahrungs-Qi”, Ying-Qi) und wird von den Eltern ererbt (“Erb-Qi” oder Quell-Qi, Yuan Qi ). Im Körper erfüllt die Lebensenergie Qi wichtige Funktionen:
- Sie ist die Quelle der willkürlichen Bewegungen, ebenso wie der Atmung, des Blutkreislaufes und der Därme
- Sie erzeugt im Körper Wärme, an der man Störungen ablesen kann
- Sie ermöglicht psychische Aktivität und Vitalität, also Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Denken
- Sie sorgt für die Verdauung und die Umwandlung von Nahrung.
- Sie ermöglicht die Speicherung von Nährstoffen und die Ausscheidung giftiger Abfallprodukte
- Sie schützt vor schädlichen Einwirkungen von außen, z.B. Witterungseinflüssen – ein wichtiges Thema insbesondere für die Krankheitsprophylaxe.
Neben der Qualität der Funktionen reguliert Qi auch deren Quantität: Ist die Lebensenergie eines Organs geschwächt, so ist seine Funktion nur unvollständig oder mangelhaft. Im übermaß vorhandenes Qi dagegen führt zur Überfunktion.
Störungen im Qi-Fluss – Krankheiten
- Eine Schwäche des Qi führt zu einer Mangelfunktion der entsprechenden Organe (Beispiel: Verdauungsstörungen). Typische Schwächesymptome sind Müdigkeit und verminderter Aktivität, Blässe, kalte Hände und Füße, übermäßiges Frieren, niedriger Blutdruck – bis hin zu depressiven Verstimmungen und Antriebsmangel.
- Eine Fülle (d.h. Überfülle) der Lebensenergie bewirkt eine überschießende Funktion der entsprechenden Organsysteme. Wichtige Symptome: Fölle- und Spannungsgefühl, Blutfülle, Rötung, akuter, stechender oder krampfartiger Schmerz – oder im psychischen Bereich innere Unruhe, Nervosität und Übererregung. Hauptsymptom ist die Hitze – ob nur auf eine Körperstelle (z.B. Gelenk) beschränkt oder in Form von Fieber.
- Stagnationen oder Blockaden der Lebensenergie treten überwiegend in der Peripherie des Körpers auf. Als Folge kommt es meist zu Föllezuständen wie Muskelverspannungen, Muskelschmerzen, Myogelosen und eingeschränkter Beweglichkeit. Auch Kopfschmerzen gehen häufig auf eine Blockade zurück.
Störungen vom Fölle- oder Schwächetyp findet man entweder in den Meridianen oder in den Organen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Schwächung des Yang (hier: Funktion) oder des Yin (hier: Struktur, Substanz) der Organe.
Die acht diagnostischen Kriterien
Krankheitssymptome werden in der Traditionellen Chinesischen Medizin zunächst anhand von acht Begriffen kategorisiert, die vier Gegensatzpaare bilden (z.B. “Heiß – Kalt”). Die Strecke zwischen beiden Polen dient als eine Art Maßschnur (“Ist der Zustand näher an heiß oder an kalt”?); zusammen bilden diese Maßschnüre das diagnostische Netz. Zeigt es ein gestörtes Gleichgewicht zwischen den Körperfunktionen, deutet das auf eine Krankheit hin.
- Biao und Li – “Außen und Innen”
Die Begriffe biao und li bezeichnen die Körperstelle, an der eine Krankheit auftritt. Dabei werden nicht nur Erkrankungen der Haut, des Bindegewebes oder der Muskeln als “äußere” Erkrankungen bezeichnet; auch akute Kopf- oder Gelenkschmerzen oder starke Wetterfühligkeit gehören dazu. “Innere” Erkrankungen haben häufig chronischen Charakter, mögliche Symptome sind Schmerzen im Brustkorb, Fieber sowie Magen- und Darmbeschwerden.
Und schließlich hängt es auch von der Dauer und Schwere einer Erkrankung ab, ob sie als biao oder als li zu kategorisieren ist: So mag sich eine Grippe im Anfangsstadium durch “äußere” Anzeichen wie Kopf- oder Gliederschmerzen äußern, bei Fortschreiten der Erkrankung und Abnahme der Abwehrkräfte dringt sie in den “inneren” Bereich vor und erzeugt li-Symptome wie Husten oder Schnupfen. Da “äußere” und “innere” Krankheiten völlig unterschiedlich behandelt werden, ist die richtige Diagnose entscheidend für die erfolgreiche Therapie. - Shi und Xu – “Fölle” und “Leere”
Mit diesen Begriffen beschreibt die chinesische Diagnostik den energetischen Gesamtzustand des Patienten: “Leere”-Erkrankungen sind mit einem Mangel an Qi oder mit schlechter Durchblutung verbunden und führen zur Unterfunktion von Organsystemen. Typische Symptome sind Blässe, Mattigkeit, niedriger Blutdruck, Schwindel, die Neigung zu Kollapsen oder Verdauungsstörungen. Auch degenerative Erkrankungen zählen dazu. Als “Fölle”-Erkrankungen gelten Bluthochdruck, akute Schmerzen, Krämpfe oder Schlafstörungen. Der Arzt der Traditionellen Chinesischen Medizin erkennt “Fölle”-Erkrankungen an einem kräftigem Puls, einer geröteten Zunge und einem geröteten Gesicht sowie an der Nervosität und inneren Unruhe des Patienten. - Han und Re – “Kälte” und “Hitze”
Die Begriffe “Kälte” und “Hitze” dienen unter anderem zur Differenzierung zwischen akuten und chronischen Erkrankungen: “Hitze” steht für akut; mögliche Symptome sind Fieber, Rötungen der Haut und der Zunge, Durst, dunkelgelber Urin oder ein schneller Puls. “Kälte” steht für chronische Krankheiten – sie sind die Folge, wenn äußere Kälte auf einen Körper mit geschwächter Lebensenergie einwirkt. Typische Kennzeichen: Blässe an Haut und Zunge, Frieren, kalte Extremitäten, dünner Urin oder langsamer Puls. Bei schweren Störungen des Qi-Stromes können “Hitze”- und “Kälte” – Symptome auch gleichzeitig auftreten (so etwa kalte Hände und Füße bei hohem Fieber). - Yin und Yang – “Schatten” und “Sonne”
In den übergreifenden Kategorien Yin und Yang (die mit “Schatten” und “Sonne” nur sehr unzureichend übersetzt sind) werden die anderen diagnostischen Kriterien zusammengefasst: “Innen”, “Leere” und “Kälte” sind Yin-Kategorien, “Außen”, “Fölle” und “Hitze” sind Yang-Kategorien.
Die acht diagnostischen Kriterien kommen selten in Reinform vor. Meist diagnostiziert der Arzt eine Kombination der Symptome, aus denen er ein Störungsmuster ableiten und entsprechende Therapien festlegen kann.
Die diagnostischen Methoden
Viel stärker, als wir das von unseren Ärzten kennen, setzt der Diagnostiker in der Traditionellen Chinesischen Medizin seine Sinne ein:
Durch intensives Betrachten, Hören, Riechen, Erfragen und Tasten kommt er zu einer umfassenden Diagnose des Gesamtzustandes. Persönliche Geschmacksvorlieben und die Gefühlswelt des Patienten bezieht er dabei ebenso ein wie das physische Erscheinungsbild sowie akute und chronische Krankheitssymptome. Einen großen Stellenwert haben die Zungen- und die Pulsdiagnose: Aus Form, Farbe, Bewegung und Belag der Zunge kann der Arzt auf Störungen im Strom der Grundenergie Qi schließen. Er kann feststellen, ob es sich um einen Mangel oder Überfluss im Yin- oder Yang-Anteil handelt, und diesen bis auf einzelne Organe oder Meridiane (Energiebahnen) orten. Auch mittels der Pulsdiagnostik können sich erfahrene Ärzte ein Bild vom energetischen Zustand des Patienten machen:
Sechs Pulstaststellen – drei an jedem Handgelenk – geben Aufschluss über den Zustand der jeweils zugeordneten Organe. Jeder Akupunkturtherapie muss eine gründliche Diagnostik vorausgehen – denn die umfassende Kenntnis des körperlichen und seelischen Gesamtzustandes ist Voraussetzung, um einen gezielten Therapieplan für den Patienten zu erstellen. Und nur auf Basis eines solchen Plans kann Akupunktur wirksam und erfolgreich eingesetzt werden.
Quelle: Stiftung Akupunktur – HNO Wiesbaden 2004